Am Abend des Lebens

Der Allerseelenmonat mit seinem Totengedenken wird vor allem in den alten Menschen, die viele ihrer Lebensgefährten auf dem wege zur Ewigkeit vorauseilen sahen, neben manchen Erinnerungen an vergangenen Zeiten auch Gedanken an die bevorstehende Vollendung wachwerden lassen. Je nach Temperament und Gläubigkeit wird Traurigkeit, ja Hoffnungslosigkeit oder auch frohe, sehnsüchtige Erwartung in den Herzen erstehen. Dieser Monat November sollte daher uns alle mahnen, auch der Alten zu gedenken, damit wir uns ihrer in der entscheidend wichtigen Endstrecke der irdischen Existenz tatkräftig annehmen. Für den Christen ist ja das Alter nicht nur Feierabend und noch viel weniger Schrottplatz des Lebens, sondern ein letztes und höchstes Ausstrecken nach der Erfüllung des Daseinssinns. Wenn man bedenkt, daß der Anteil der über fünfundsechzig Jahre alten Menschen an der Bevölkerungszahl bei uns in hundert Jahren von vier Prozent auf Zehn Prozent und wahrscheinlich in den nächsten Jahren auf fast fünfzehn Prozent steigen wird, dann kann man ermessen, welche Bedeutung der alternde Mensch in der Gesellschaft gewinnen wird. Leben doch bereits heute in der Bundesrepublik fünf Millionen Menschen, die das normale Pensionierungsalter überschritten haben. Je höher aber die Zahl der alten Menschen wird, desto geringer wird die Hochschätzung des Alters. Die Zeiten sind längst vergangen, da die Ältesten in der Gesellschaft eine Ehrenstellung einnahmen und im Senat die Geschicke des Volkes bestimmten. Man wußte ihre Lebenserfahrung und Weisheit zu schätzen und schenkte ihnen daher ein hohes Maß an Vertrauen. Die moderne Zeit,in der allein Vitalität und Aktivität Geltung haben, sieht das alter meist als eine „unproduktive“ Größe an, die zu nichts mehr wert ist. Wir haben durch die Epoche der Jugendbewegung den Eigenwert der Jugend kennengelernt, haben aber dafür die rechte Einschätzung der Lebensreife verloren. Viele Menschen haben dazu in den Kriegs- und Notzeiten keine rechte Jugendzeit erlebt und suchen heute nachzuholen, was doch längst entschwunden ist. So kommt sich der alte Mensch, der aus seiner Berufsarbeit ausgeschieden ist, vielfach unnütz und überflüssig vor, er kann seinen Lebenstagen keinen Inhalt mehr geben. Wenn er nicht eine hohe Rente bezieht oder eine gute Erbschaft hinterlassen wird, werden ihn die jüngeren Verwandten das oft genug gründlich spüren lassen. Eine gewisse Spannung zwischen junger und alter Generation war zu allen Zeiten vorhanden, ja sie war noch spürbarer als heute. Vielleicht ist es gerade schlimm, daß dieser Gegensatz mehr und mehr aufgehoben wird. Hat nicht der ältere Mensch vor den Jungen bereits kapituliert, setzt er ihrem Ansturm keinen widerstand mehr entgegen, da er ihn doch als nutzlos und vergeblich erachtet? Räumt er also kampflos das Feld und zieht sich auf den Altenteil zurück? Oder er nimmt eine Jugendfrische, die ihm gar nicht ansteht und ihm auch keiner mehr glaubt. So gibt er seine eigene Würde preis und verfällt der Lächerlichkeit. Aber es sind auch entgegengesetzte Zeichen feststellbar, wenn sie auch nicht sehr zahlreich sind. In der Ratlosigkeit und Verwirrung der Zeit kann der alte Mensch eine Autorität gewinnen, die unbestritten ist. Er strahlt die Ruhe und Sicherheit aus, die unsere Epoche so sehr fehlt. Da kann es geschehen, daß man ihm höchste Verantwortung anvertraut. Aber dies sind doch Ausnahmen. Mit der Erschütterung des Familienlebens ist das Alter zu einen schwierigen sozialen Problem geworden. Nur für 180 000 alte Menschen stehen in der Bundesrepublik Altersheimplätze zur Verfügung, die meistens alten Leute sind also auf die Hilfe der Familien oder der Nachbarschaft angewiesen oder sie sind hilflos und verlassen. Die katholische Altersfürsorge hat in den letzten Jahren große Anstrengungen gemacht, um dem alten Menschen beizustehen. Die Caritas verfügt in Deutschland über 1450 Altersheime mit rund 54 000 Betten, aber die doppelte Zahl wäre erforderlich, um alle Anforderungen befriedigen zu können. Erfreulicherweise werden auch mehr Altenwohnungen gebaut, in denen die Alten ihre Selbständigkeit erhalten können, auf die sie viel Wert legen, bis sie dann pflegebedürftig werden. Zu der geschlossenen Altersfürsorge in den Heimen muß die offene Altershilfe kommen, die dem alten Menschen sein eigenes Leben erhält, aber ihm von Fall zu Fall Beistand leistet. So werden während der Advents- und Weihnachtszeit in vielen Pfarreien zu geselligen Veranstaltungen eingeladen. Der jährliche Altentag hat sich vielerorts eingebürgert. Altentagesstätten, Altenerholung, Altenbetreuung, Hauspflegedienst für Betagte und Gemeinschaften von Pensionären, besonders auch das Invalidenwerk KAB haben sich vielfach bewährt. Besondere Bedeutung hat die Altenseelsorge, da der Mensch am Abend seines Erdendaseins öfters schwierigen Glaubenskrisen ausgesetzt ist un auch moralisch Schiffbruch erleiden kann. Es wäre jedoch verfehlt, wenn man dem alten Menschen seine eigene Aktivität völlig nehmen wollte, indem man ihn fortlaufend betreut. Auch darf man ihn nicht ausschließlich mit seinesgleichen in Verbindung bringen, da man so aus der Gesellschaft ausschließen würde.So lange als nur irgend möglich sollte man ihm das Leben in der Familie oder in den Kreisen der Berufstätigen ermöglichen, denn nicht nur der alte Mensch bedarf des Beistands, sondern auch der jüngere Mensch ist auf Rat der Alten angewiesen. Auch sollte man die Kinder nicht von den alten Leuten trennen, da Anfang und Ende des Lebens sich eng berühren . Vor allem aber müßte die Einstellung der Gesellschaft zum Alter eine Wandlung erfahren. Wir müßten die Bedeutung dieses Lebensabschnitts neu erkennen und wissen, daß die Menschheit die Altersweisheit nicht entbehren kann. Zumal der Christ sollte sich erinnern, daß der Mensch, der die Höhe des biologischen Lebens beschritten hat, nicht zum alten Eisen geworfen wird, sondern in Gebet und Opfer der Vollendung seines Daseins zustrebt und Gottes Nähe mehr als alle anderen erfahren darf. Quelle: Im Spiegel der Zeit – Walther Kampe – Verlag Josef Knecht – Frankfurt am Main. S 292ff