Betrachtungen zum Marienmonat Mai

Kardinal Newman

Die Mutter Kirche lädt ihre Kinder ein, im Monat Mai besonders die Gottesmutter zu verehren. In den Kirchen finden traditionell die Maiandachten statt, die uns mit Liebe zu Christus und seiner heiligsten Mutter erfüllen sollen. Warum ist gerade der Monat Mai in ganz besonderer Weise der Verehrung der allerseligsten Jungfrau gewidmet? Der selige Kardinal Newman (1801-1890) hat in seinen „Betrachtungen über die Lauretanische Litanei”* eine schöne Antwort formuliert: „Weil nach langem Eis und Schnee, nach der drückenden Witterung des Winters, nach den Frühlingsstürmen und Regenschauern die Erde im Monat Mai sich mit neuem Grün und frischem Blätterschmuck bekränzt. Weil überall in Feld und Garten, auf Bäumen und an Fenstern die Blumen erstehen, die Tage länger werden und den Sonnenschein uns immer länger öffnen. Dieser stumme Jubel der Natur ist der natürliche Ausdruck unserer Verehrung für diejenige, die da genannt wird „mystische Rose“ und „goldenes Haus“. Vielleicht wendet jemand dagegen ein, in unseren Breitengraden sei der Mai oft genug rauh und kalt. Aber das beweist nichts dagegen, dass dieser Monat der Monat der Hoffnungen und Verheißungen ist. Mag das Wetter noch so trübe sein, so verheißt der Monat doch den Sommer, ja er ist sein Herold und öffnet ihm die Bahn. Mag der Himmel mit düsteren Wolken und kaltem Nebel noch so verhangen sein, wir wissen, dass früher oder später doch die Sonne durchbrechen und helles Licht die Natur und unsere Seelen erleuchten wird. Sagt doch der Prophet: „Der Glanz der Schönheit wird einst aufsteigen und uns nicht täuschen; wenn er zögert, dann nur Geduld! Denn er wird sicher kommen und unsere Hoffnung nicht zuschanden werden lassen.“ Wenn also der Mai nicht die Zeit der Erfüllung ist, so ist er doch der Monat der Verheißungen (und die Verheißung ist, wie nun einmal das Leben sich gestaltet, immer näher als die Erfüllung, und unser Erwarten immer beseligender denn das Erreichen). Als die Fülle der Erwartung müssen wir aber gerade die allerseligste Jungfrau Maria betrachten. Darum ist der Monat Mai ihr in besonderer Weise geweiht. Der Prophet sagt: „Ein Reis wird hervorgehen aus der Wurzel [esse, und eine Blume aus der Pflanze sich erheben“. Das Reis, die Blume, ist unser gebenedeiter Herr selbst; der Wurzelstock aber und die schöne Pflanze, aus der die Blume hervorbricht, ist Maria, die Mutter des Herrn und auch unsere Mutter. Es war prophezeit, dass Gott auf der Erde erscheinen werde, und die Erfüllung wurde angekündigt mit den Worten des Engels: „Gegrüßet seist Du, voll der Gnade! Der Herr ist mit Dir, und Du bist gebenedeit unter den Weibern.“ Die Jungfrau selbst ist also die sichere Verheißung des kommenden Erlösers, und der Monat der Verheißungen, des Sprießens und Sprossens in der Natur sowie der freudigen Erwartung in den Menschenseelen muss darum ihr geweiht sein. Ein weiterer Grund, warum dieser Monat der allerseligsten Jungfrau geweiht wurde, ist der, dass der freudigste und an feierlichen Festen reichste Teil des Kirchenjahres in diesen Monat fällt. Wer möchte wünschen, dass der Februar, März oder April, die Zeit des Fastens und der Busse, oder der Dezember, die Zeit des Adventes - zwar der Hoffnung, aber auch der Einkehr und Reue - als Marienmonat erwählt worden wäre? Weihnachten selbst dauert keinen Monat, und obwohl der Januar das Hochfest der Epiphanie mit den folgenden Sonntagen bringt, so ist die Zeit durch das frühe Eintreten der Vorfasten (Septuagesima) doch meist recht kurz bemessen. Der Mai aber gehört zur Osterzeit, die 50 Tage währt, und so umfasst dieser Monat gewöhnlich ganz oder doch sicher die erste Hälfte dieser Gnadenzeit. Die Hochfeste der Himmelfahrt und der Geistsendung haben fast immer, mit ein oder zwei Ausnahmen in 40 Jahren, ihren Platz im Mai Monat und ebenso die Feste der Heiligsten Dreifaltigkeit und des Allerheiligsten Sakramentes. Darum wird im Monat Mai so oft das Alleluja gesungen, dass man ihn die Zeit der Allelujas nennen könnte, weil der Herr aus dem Grabe hervorgegangen und zum Himmel aufgestiegen ist, um uns an Seiner Stelle den Heiligen Geist zu senden. Das ist also einer der Gründe, warum der Mai auf die besondere Verehrung der allerseligsten Jungfrau abgestimmt und ihr geweiht ist. Sie ist die erste der Kreaturen, das schönste und liebste aller Gotteskinder und am nächsten dem göttlichen Throne. Der Monat muss darum mit Fug und Recht ihr gehören, da wir die großen Feste der Erbarmung Gottes, unserer Erlösung und Heiligung in den drei göttlichen Personen feiern. *[Meditations on the Litany of Loretto, for the Month of May] Entnommen aus: John Henry Kardinal Newman: „Der Maimonat. Betrachtungen über die Lauretanische Litanei und andere Gebete“, Köln 1954. Textquelle: www.kathnews.de Quelle: Gottesdienstordnung Alte Messe Frankfurt, Deutschordenskirche, Marienmonat Mai 2019. Red.: Klaus Scharf