Der Geringste von allen Engeln – eine Weihnachtsgeschichte
Von allen Engeln war er der Geringste.
Von den Abermilliarden reiner Geister, die Gott geschaffen hat, unendlich zahlreicher als die Gesamtheit der Sterblichen von Beginn bis zum Ende der Welt, war er der Unbedeutendste. In einer unübersehbaren Hierarchie, gebildet von neun Engel¬chören, waren alle Engel, ohne Ausnahme, ihm übergeordnet. Unter ihm, weit von ihm entfernt, gab es nur uns, die Menschen.
Glauben Sie jedoch nicht, daß er darüber enttäuscht oder verbittert gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, er war ein besonders fröhlicher und glücklicher Engel.
Er ließ sich niemals auf die Versuchungen Luzifers ein, der selbst gekommen war, um ihn zu beeinflussen und der glaubte, in ihm ein Gefühl der Ungerechtigkeit erwecken zu können.
„Folge mir“, flüsterte der Versucher ihm zu und du der Geringste der Geringen wirst Gott ähnlich werden.
Er hätte laut aufgelacht und mit den Achseln gezuckt, wenn er welche gehabt hätte. So würden wir Menschen es tun. Er aber stellte eine einfache Frage, die durch das ganze Himmelsgewölbe hallte: - „Also, wer ist wie Gott?“
Daraufhin rief der Erzengel Michael zum Krieg auf. Unter seiner Führung gelang es dem Engelsheer nach einem gigantischen Kampf die aufmüpfigen Dämonen in die Hölle zu verjagen.
Seitdem verbringt dieser Geringste der Engel seine Zeit damit, auf der Erde Gutes zu
tun.
Er war ein reiner Geist und hatte natürlich keinen Körper. Aber er besaß eine Intelli-genz unermeßlich höher als unsere, einen freien Willen und eine Macht über die gan¬ze vergängliche Welt, die nur durch den Plan der Göttlichen Vorsehung begrenzt war. Außerdem mußte er nie etwas lernen, alle seine Kenntnisse waren ihm von Gott schon im Augenblick seiner Erschaffung mitgegeben worden. Sein Wissen, seine Kraft, seine Unterscheidungsgabe verwendete er, um die Bedingungen unseres täglichen Lebens zu beeinflussen.
Dort, wo er vorbeikam, wurde die Luft leichter, die Vögel sangen fröhlicher, die Blu-men dufteten und die Menschen fühlten sich besser.
Er war der Engel, der den Frieden in der Natur nach großen Stürmen wiederherge-stellt hat, jener, der uns die Milde des wiederkehrenden Frühlings spüren läßt, der in dem Raum, wo sich die Arbeiter nach der Feldarbeit ausruhen, für eine angenehme kühle Temperatur sorgt, der im Herbst über die Ernte der Früchte wacht, die in Fülle vorhanden sind und der, sobald der Schnee das Land bedeckt, Wohlbehagen vor dem knisternden Kamin schafft.
Er überwacht die Erde, um die ungebärdige Natur zu besänftigen, das Leben für die armen Menschen erträglicher zu machen, sie aufzumuntern und ihnen Tugendhaftig¬keit nahe zu bringen.
Vor allem versuchte er, die Hoffnung in den Herzen der Menschen wiederzuer-wecken. Er machte dies in demütiger Weise mit Scharfsinn und Taktgefühl. All das schien ihm jedoch nicht genug und erfüllte ihn nicht ganz.
Er stellte gerne Vermutungen an und glaubte, daß Gott ihm vielleicht eines Tages eine ganz besondere Aufgabe anvertrauen wird.
„Wahrscheinlich bin ich als Schutzengel für jemanden ausersehen; da ich der Geringste unter den Engeln bin, wird das vermutlich ein sehr schwacher Mensch sein“, sagte er zu einigen der großen Erzengel des Paradieses, die natürlich mehr wußten als er, aber darüber Stillschweigen bewahrten.
Obwohl er über nichts Bescheid wußte, bemerkte er eine ungewöhnliche Aktivität in der himmlischen Sphäre.
Da seine Vorgesetzten mit wichtigen Dingen beschäftigt waren, hat ihm keiner verraten, was hier vorgeht und so machte er sich weiterhin auf der Welt nützlich.
Er hatte schon mehrere tausend Jahre seine Pflichten erfüllt - eine Zeitspanne, die wir gar nicht erfassen können, die aber für einen Engel im Vergleich zur Ewigkeit unbedeutend ist – als eines Abends einer der wunderbaren Seraphime, die ihren Sitz ganz nah am Throne Gottes haben, zu ihm kam:
„Unser Schöpfer hat eine Aufgabe für dich, sagte er, „kümmere dich schnell um arme
Leute an einem Platz, den ich dir angeben werde.“
Er beeilte sich, rasch an den ihm angegebenen, unendlich weit entfernten Ort zu gelangen und kam, ohne zu wissen, was er dort vorfinden würde, an einen schlecht beleuchteten Platz.
Er sah sich um und bemerkte: … das kleinste, schwächste, ärmste Menschenkind. Jetzt überflutete ein wunderbares Licht den Stall, wo er sich befand und als er sich umdrehte, sah er, daß der ganze himmlische Hofstaat anwesend war und daß tausende und abertausende Engel, die hinauf- und herabschwebten, ein neues Lied mit unendlich süßem Klang anstimmten.
„Beeil dich, du siehst doch, daß ihm kalt ist“, sagte der Seraphim.
Erst in diesem Augenblick wußte er, daß Gott selbst Mensch geworden war und daß er die große Aufgabe erhalten hatte, dieses kleine Kind, seine Mutter, die Heilige Jungfrau, und seinen Adoptivvater, den heiligen Joseph zu beschützen.
Rasch zog er den Esel und den Ochsen näher heran, damit sie dem Neugeborenen mit ihrem Atem ein bißchen Wärme geben; er machte das Stroh geschmeidig, damit sich das Kindlein ja nicht an einem Strohhalm verletzt und verströmte einen weih-nacht¬lichen Duft von Tannenharz, warmem Wachs, Orangenblüten und verschie-de¬nen Bäckereien.
Das Kind, das ihn sah, lächelte. Er war der Geringste, aber der Glücklichste aller Engel.
Seit dieser Nacht kommt er jedes Jahr auf die Erde, um den Seelen guten Willens die
Lieblichkeit, den Duft und den Geist von Weihnachten spüren zu lassen.
Also seht euch bitte um und stellt euch auf sein Kommen ein. Ihr werdet ihn erken-nen, vielleicht in der Flamme einer Kerze, die vor der Krippe flackert, im Leuchten einer Weihnachtskugel, die auf dem Tannenbaum hängt oder im Klang der Lieder in der Mette.
* * *
Anmerkung: Das ist nur eine Weihnachtsgeschichte. Aber den Geringsten der Engel gibt es. Ich habe nie erfahren, wie er heißt (wenn er es mir gesagt hätte, hätte ich es aufgeschrieben; aber die Kirche verbietet den Menschen, Namen der Engel zu nennen, die nicht in der Bibel aufscheinen). Jedenfalls hätte unsere armselige Intelligenz große Schwierigkeiten, die Bedeutung und die Schönheit des Namens eines Engels zu verstehen.
Übrigens, er ist es, der mich auf den Gedanken gebracht hat, diese Geschichte zu verfassen. Auf meinen Einwand, daß vielleicht nicht alles ganz genau stimmt, hat er gelacht, die Achseln gezuckt und gesagt: „Du mußt am Ende nur eine Anmerkung machen. Jene, die sich ihre kindliche Seele bewahrt haben, werden sich freuen, die anderen …..“
Benoît Bemelmans
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