Die Karwoche beginnt


PALMSONNTAG

Verschiedene Namen trägt die Woche, die mit dem Palmsonntag beginnt und den Abschluss der Fastenzeit bildet. In der Kirchensprache heißt sie „die große Woche“. Der hl. Chrysostomus erklärte diese Bezeichnung so: „Wir nennen diese Woche die große, nicht weil sie mehr Tage hat als andere Wochen, oder weil die Tage in ihr mehr Stunden wählen als andere, sondern wegen der großen und vielen Geheimnisse, die wir in ihr feiern. denn in dieser Woche nahm der lange Krieg ein Endes, wurde der Tod getötet, der Fluch vernichtet, des Teufels Erbschaft zerstört, in dieser Woche wurde Gott mit den Menschen ausgesöhnt, der Himmel wieder eröffnet, die Menschen mit den Engeln verbunden, die Scheidewand niedergerissen und Friede zwischen Himmel und Erde geschlossen.“ Ja, das ist die Woche, die im Laufe des gottesdienstlichen Jahres die Feier der großen, hohen Geheimnisse des Leidens Christi und unserer Erlösung bringt.
In alter Zeit durften in dieser Woche keine lauten, lärmenden Arbeiten verrichtet werden. Nicht bloß Tanz und Musik waren verboten, sondern auch die Ausübung des Gewerbes, die Vornahme von Gerichtsverhandlungen, Schuldeneintreibungen usw. In stiller Trauer wollte man das Gedächtnis des Todes Jesu begehen. Heute noch verlieren sogar die Glocken in den letzten drei Tagen der Karwoche ihre Stimme und schweigen in Schmerz und Trauer. „Sie reisen nach Rom.“ Mit Recht gab das katholische Volk der Karwoche auch den Namen „stille Woche“. In den Bezeichnungen „Marter=, Trauer=, Klage=, Karwoche (kara = Trauer) kommt das Mitfühlen und Mitleiden des Christenherzens mit dem Erlöser zum deutlichen Ausdruck.
Seit frühester Zeit suchte man die Karwoche durch besondere Werke der Barmherzigkeit zu heiligen. Man teilte in reicher Freigebigkeit Almosen aus, schenkte Gefangenen die Freiheit, begnadigte Straffällige und übte auf alle Weise gegen andere Milde und Güte.
Die stille Woche wird eröffnet mit dem Palmsonntag. Die gegenwärtige Palmsonntagsfeier umfasst drei Teile: die Palmweihe, die Palmprozession und die Heilige Messe. Letztere weist keine Besonderheiten auf, außer, dass die Leidensgeschichte nach Matthäus gelesen wird.
Eine eigene Palmweihe findet sich erst im Mittelalter.Daher erklärt es sich auch, weshalb die Palmweihe ganz in Form einer Messe gehalten wird. Das tiefgläubige Mittelalter liebte es nämlich, Weihen, denen es eine besondere Bedeutung und Feierlichkeit verleihen wollte, in der äußeren Form einer heiligen Messe zu halten. Natürlich ließ man dabei die Stillmesse und die Wandlungsworte aus.
Die Palmbüschel, die zu Weihe gebracht werden, wechseln ihre Gestalt je nach der Gegend. Im großen ganzen sind zwei verschiedene Formen zu unterscheiden: entweder hohe, mannigfach verzierte Stangen oder kurze „Boschen“ von besenartigem Aussehen. Schon mehrere Tage vor dem Sonntag geht es auf die Suche nach „Palmen“. Da echte Palmzweige bei uns nicht zu gewinnen sind, begnügt sich die Jugend mit dem verschiedenartigsten Ersatz. Am meisten bevorzugt sind Zweige von Bäumen, die sogenannte Kätzchen oder Lämmer haben, wie Weide, Haselnuss, Silberpappel. Oft wird auch Eibendaas genommen, Wacholder, Kranawittzweige, Buchs usw. Wärend wir Schulbuben im Mittelschäbischen unsere Palmen auf schlanken, hohen, buntbemalten Stangen stolz zur Kirche tragen, verwendet man im Allgäu und am Bodensee statt der Stangen ein bis zwei Meter lange, entästete Ruten, meist biegsame Haselnußstauden. Oft werden auch zur Erinnerung an die heilige Dreifaltigkeit drei Ruten zusammengebunden oder oben drei Hölzchen in Kreuzform befestigt. Vielerorts wird der Palmbüschel mit perlenartig angereihten Äpfeln und mit flatternden, langen Seidenbändern geschmückt. Welch prächtiger Anblick, wenn die Jugendschar mit ihrem Wald von Farbenfrohen Palmbuschen den Altar umsteht und der Priester über die Zweige den Segen der Kirche spricht.
Von den geweihten Palmzweigen werden einige in der Herrgottsecke hinters Kruzifix (oder hinter den Spiegel) gesteckt, andere in Kreuzform im Stall angenagelt. Das übrige wird in der Truhe aufbewahrt. Bei drohenden Gewittern holt die Hausmutter ein Zweiglein hervor und verbrennt es im Herdfeuer. Mancherorts mischt man dem Vieh geweihte Kätzchen unters Futter.
Älter als die erst im Mittelalter aufgekommene Palmweihe und reicher an schönen Gedanken ist die Palmprozession. Sie ist eine dramatische Darstellung des Einzuges Jesu in Jerusalem, eine begeisterte Huldigung der Gläubigen für den Sieg über Sünde und Tod. Die Prozession geht auf das Beispiel der Kirche von Jerusalem zurück, wo schon vor dem Jahre 400 die Gläubigen, an ihrer Spitze der Bischof, unter Hymnengesang vom Ölberg in die Stadt herabzogen. Von Jerusalem aus nahm die Palmprozession ihren Eroberungszug durch das ganze Morgen- und Abendland. Die Kirche denkt sich den Heiland inmitten der Jubelnden Prozession. Darum führte man in manchen Gegenden Deutschlands früher den sogenannten Palmesel mit. Es war das ein auf Rädern laufender, geschnitzter Esel, auf dem der Heiland saß. Dieser war anfänglich ein kostümierter Ministrant oder Kleriker, später eine angekleidete oder angemalte Holzfigur. Beim Umzug wurden wie einst beim Umzug in Jerusalem Palmenzweige gestreut und nach dem Esel geworfen. Eine besondere feierliche Palmeselprozession war früher in der ehemaligen Reichsstadt Kempten. Da zogen Bürgermeister und Rat, alle Zünfte und Gewerbe und die ganze Gemeinde, Männer und Frauen, mit brennenden Wachskerzen ins fürstliche Stift hinaus, um von hier aus den Palmesel in die Kirche zu führen.
Ein besonderes Fest war das Erscheinen des Palmesels natürlich immer nur für die Kinder. An einigen Orten brachten sie ihm ein Büschelchen Heu, und diejenigen unter ihnen, die am Palmsonntag ihre ersten Höschen trugen, durften sogar auf den Esel reiten, was man für das gedeihen des Kindes besonders heilsam hielt. Die letzte Palmeselprozession dürfte im Jahre 1802 zu Schwäbisch-Gmünd stattgefunden haben. In Süddeutschland gehen heute noch die Redensarten um: „Er kommt selten wie ein Palmesel — Er ist geputzt wie ein Palmesel acht Tage vor Ostern.“
Heutzutage ist die Palmprozession bedeutend eingeschränkt und erstreckt sich nur auf den Kirchplatz. Aber mag die Prozession auch an äußerem Prunk verloren haben, ihre innere Schönheit, ihre ergreifende Symbolik ist heute noch so frisch wie einst. Die Kirche grüßt heute den Heiland als Todüberwinder, der nach seinem Leiden im Triumph eingeht in die Herrlichkeit des Vaters. Ihre Gedanken gleiten vom irdischen Jerusalem hinauf zum himmlischen Sion. Vor ihrem Geiste steht das Bild der seligen Scharen, die in der Vorhöllle schmachten und auf den Erlöser harren, und die nun am Himmelfahrtstag mit dem Sieger über Leiden und Tod jubelnd einziehen in die Herrlichkeit des ewigen Jerusalem. Diese Vorstellung findet herrlichen Ausdruck in der tiefsinnigen Zeremonie am Ende der Prozession. Wenn der Jubelnde Zug wieder an der Kirchentüre ankommt, findet er sie verschlossen. Im inneren der Kirche, die den Himmel versinnbildet, begrüßen einige Sänger als Engel den mit den Befreiten der Vorhölle herannahenden Todessieger:

Herrlichkeit, Lob und Preis sei dir, Fürst Christus, Erlöser!
Dem die kindliche Schar frommes Hosanna geweiht.
Du bist Israels König und Davids erhabener Sprößling.
Der in dem Namen des Herrn, herrlicher König, du kommst.
Festlich besingen dich droben geschlossen die himmlischen Scharen,
festlich der sterbende Mensch, alle Geschöpfe zumal.
Freudig mit Palmen geschmückt, kam einst dein Volk dir entgegen:
Bitten, Gelübde, Gesang bringen entgegen auch wir.
Schuldiges Lob einst sangen dir jene, bevor du gelitten;
jetzt, da hoch du regierst, tönt dir unser Gesang.
Diese gefallen dir wohl, so gefalle dir unsere Andacht, Mildester!
O Gütigster Herr, dem das Gute gefällt!

Draußen vor der Kirchentüre, dem versinnbildeten Himmelstor, fällt die Schar der Erlösten in den Lobgesang ein. Mit dem Schaft des Kreuzes stößt der Subdiakon an die Türe — das Himmelstor springt auf. Durch sein Kreuz, durch sein siegreiches Leiden erschloß der Heiland den Gerechten den Himmel. Im Triumph, unter Gesang und Orgelspiel hält er seinen Einzug. Hosanna dem Sohn Davids! Hoch gelobt sei, der da kommt im Name des Herrn! Hosanna in der Höhe!

Quelle: Kirche und Leben – Alphons Maria Rathgeber -
Verlag Albert Pröpster – Kempten im Allgäu