Die Tauben von Fatima



Als die wunderbare Statue der Gottesmutter von Fatima, das weltberühmte Gnadenbild, im Jahre 1946 in einer Prozession von Bombarral nach Lissabon getragen wurde, gingen auch zwei Freunde in der jubelnden Menge mit, die der Statue der Madonna huldigte, wie man es nicht mal bei einem fürstlichen Empfang beobachtet hatte.


Carlos war ein gläubiger junger Mensch. Als das Gnadenbild an ihm vorüberzog, rief und jubelte er wie alle: „Ave, ave Maria!“ und warf der Statue Unserer Lieben Frau Blumen zu. Fernando aber, sein Freund, stand verächtlich lächelnd da und sagte: „Daß es so etwas noch im 20. Jahrhundert gib! Die Marienverehrung lasse ich mir noch gefallen, aber schließlich ist dies nur ein Bild; doch das grenzt an Götzendienst. Schau dir die vor Freude weinenden Frauen an, wie sie die Kinder hochheben, damit sie dem toten Bild Kußhände zuwerfen! Das geht zu weit, Carlos, sag es selbst!“ Der Freund schüttelte den Kopf und sah mit glänzenden Augen zu der goldgekrönten, weißschimmernden Gestalt hin. Unmerklich wurden sie von der Menge mitgezogen.

„Versündige dich nicht mit deinem Murren, Freund“, sagte er ernst zu Fernando, „nicht viele Sterbliche sind so glücklich wie jene Kinder von Fatima, die die Gottesmutter sehen und sprechen durften. Ich bin überzeugt, daß die mütterlichste aller Frauen die Huldigung, die ihrem Bild geschieht, genauso liebevoll annimmt, als sei sie selbst zugegen. Schmückst du nicht auch das Bild deiner toten Mutter mit Blumen und lächelst ihm zu?“ Fernando aber sah fort und murmelte: „Das ist etwas ganz anderes.“

Er blickte zum Himmel, wo drei weiße Tauben im herrlichen Blau kreisten. „Sieh dort, die wiegen sich hoch über der Torheit der Menschen. Sie sind viel gescheiter, halten sich fern vom Gedränge.“

Im nächsten Augenblick stockte ihm der Atem. Die drei weißleuchtenden Tauben senkten sich herab und kreisten über der Statue, die hoch über den Köpfen der Träger ragte. Dann schwebten sie noch tiefer und ließen sich nebeneinander auf dem Sockel der Statue nieder, dicht an die Füße der Madonna gekauert. Jubelrufe brausten auf, Händeklatschen, Böllerkrachen, die Tauben ließen sich davon nicht beirren. Ein erneuter Blumenregen ging von allen Seiten auf die lächelnde Madonna nieder.

„Jetzt müssen sie doch fortfliegen!“ rief Fernando. Er war kreidebleich. Die Tauben aber duckten nur die Köpfchen und breiteten schützend die Schwingen, wenn ihnen der Blumenregen zu dicht wurde. Leise und zärtlich gurrend schmiegten sie sich noch dichter an die Statue. Dort blieben sie Stunden und Tage unbewegt sitzen, ließen sich füttern, waren aber nicht zu bewegen, ihren erwählten Platz aufzugeben. Sie wurden fotografiert von nah und fern, aber es störte die sonst so scheuen Tiere nicht.

Fernando ging Stunde um Stunde neben Carlos her und merkte kaum, daß seine Lippen alle Ave Maria mitbeteten, die unermüdlich angestimmt wurden. Seine Augen hingen an der Statue. Auch als sie Einzug im Dom zu Lissabon hielten, blieben die Tauben. Aber bei der Kommunionsmesse am 6. Dezember 1946 erhob sich eine der Tauben und setzte sich auf die goldene Krone der Madonna, anzusehen wie das Sinnbild des Heiligen Geistes.

Die Menge schaute, staunte und war ergriffen. Fernando aber stand und hatte ein kleines Mädchen auf den Arm gehoben, damit es besser sehen konnte. Es war der Madonna Kußhändchen zu.

CML: Die schönsten Mariengeschichten, zusammengestellt von K. M. Harrer, Miriam-Verlag, 2000, S. 134-135