Die wahre Schau des Kreuzes – II.


Ich blicke zum Kreuz auf und schaue einen Längsbalken und einen Querbalken und dazwischen angenagelt einen Menschensohn.
Der Längsbalken, fest verankert in der Erde, damit das Kreuz nicht zu Fall komme, strebt vom Boden aus zum Himmel empor. Er hat die Richtung von unten nach oben. Als ich hinzugetreten bin, um mit meinen Augen die obere Kante zu betrachten, da schaue ich hinein in die Bläue des Firmaments. Ich lasse die Erde hinter mir und richte mein Angesicht in die Höhe, über mich hinaus. Der Längsbalken durchbricht in seiner Richtung die Erde und die Wolken, um hinein zu schreiten in die unmessbaren Weiten der Unendlichkeit, die allein Gott gehören.
Der Querbalken aber, von rechts nach links, von links nach rechts, strebt über das Land. Wenn ich mit meinen Augen seine Richtung weiterverfolge, so gelangt mein Blick an die Horizonte. Die Richtung des Querbalkens beherrscht den ganzen Raum, in dem ich stehe. Verlängere ich meinem Geist seine Richtung, so durchquert sie Kontinente, bis sie ob der Kugelform unserer Erde wieder dorthin zurückkehrt, von wo sie ausgegangen ist. Der Querbalken gehört dieser unserer Welt an.
Ein Menschensohn aber ist beiden Balken verhaftet. Er hängt daran. Menschen haben ihn angenagelt. - Haben wohl jene Männer, deren Tat hier sichtbar wurde, gewusst, was für ein Zeichen sie setzen? Welche Bedeutung können wir dem Längs- und dem Querbalken zumessen? Hat wohl der, der da am Kreuze hängt, ein Herz, das zugleich den vielen und zugleich der Unendlichkeit zugeordnet ist. - Ich bin allein. Der Weg, den ich wandere, ist wenig belaufen. Über dem Land weht nachmittäglicher Wind, der von den Olivenbäumen herüberkommt. Und die Frage wohnt in meinem Inneren: „Hat wohl der, der da am Kreuze zwischen Himmel und Erde hängt, ein Herz, das den vielen und dem Unendlichen zugeordnet ist?“ Kommt er von Gott? Ist er Jener, der uns als der Sohn Gottes zurückruft zum Vater, der im Himmel ist??“
Doch wem sagt schon ein Balken, - ein Längsbalken, der in den Himmel hineinweist, etwas? Wer kümmert sich denn heute um den hohen Himmel über uns? Wem bedeuten die aufragenden Türme unserer Kirchen, Dome und Kathedralen noch ein Fingerzeig, der nach oben zeigt? Was stellen denn dem modernen Menschen die Kirchen anderes dar als die Museen einer entschwundenen Epoche? Ihre hohen Räume beruhigen. Sie sind wunderbar dazu geeignet, in ihnen Musik der alten Meister aufzuführen.
Haben nicht die Menschen sich in dieser irdischen Welt so gänzlich eingenistet, dass sie den Blick nach Oben vergessen haben? - Oben, das ist ein Begriff der Raumfahrt. Er gehört der technischen Welt an.
Auch errichten die Menschen Bauten, die weit in den Himmel hineinstreben, aber diese Bauten sind keine Wegweisung über diese Welt hinaus, sondern sie sind herausfordernde Zeichen ihrer Macht und ihres Könnens. Sie Türmen ihre Bauten wie trotzige Burgen auf, die den inneren Blick der Seele verstellen und nicht freigeben. Und jene himmelstürmenden Türme, hoch wie der von Babylon, erheben sich als Machtzentren des Fernsehens, von denen aus ein ununterbrochener Redeschwall herniederprasselt. Hat nicht die Schmutzflut dieser redenden Mäuler und das Herz unserer Zeitgenossen längstens blockiert? Hat nicht die Gehirnwäsche dieser Manipulatoren viele betört?
(P. Otto Maier SJM.)

Quelle: Pilgerfahrt nach Fatima . 1967 - SJM-Verlag – Neusäß