Heldentum des Alltags



Wie in den ersten Jahrhunderten des Christentums können sich auch in unseren Zeiten in jenen Ländern der Welt, wo Religionsverfolgungen wüten — offen oder versteckt, jedoch nicht weniger hart —, die bescheidensten Gläubigen von einem Augenblick zum anderen der dramatischen Notwendigkeit gegenübersehen, wählen zu müssen zwischen ihrem Glauben, den unangetastet zu erhalten ihre Pflicht ist, und ihrer Freiheit, den Mitteln zum Lebensunterhalt, ja der Erhaltung des Lebens selbst. Aber auch in normalen Zeiten geschieht es, daß sich Menschen plötzlich vor die Wahl gestellt sehen, eine unumgängliche Pflicht zu verletzen oder sich gefährlichen und drückenden Opfern und Gefahren für Gesundheit, Besitz, Familie und gesellschaftliche Stellung auszusetzen. So sind sie in die Zwangslage versetzt, heldenmütig zu sein und zu handeln, wenn sie ihren Pflichten treu bleiben und in der Gnade Gottes verharren wollen.

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Als Unsere hochverehrten Vorgänger, und im besonderen Papst Pius XI. in der Enzyklika Casti Connubii, die heiligen und unumgänglichen Gesetze des Ehelebens in Erinnerung riefen, erwogen sie und gaben sie sich durchaus Rechenschaft darüber, daß in nicht wenigen Fällen von den christlichen Eheleuten wahres Heldentum gefordert wird. Ob es sich darum handelt, den von Gott gewollten Zweck der Ehe zu achten, oder darum, den brennenden und verführerischen Verlockungen der Leidenschaften zu widerstehen, die einem unruhigen Herzen einflüstern, anderswo das zu suchen, was es in seiner rechtmäßigen Verbindung nicht gefunden hat oder nicht gänzlich gefunden zu haben glaubt; oder nun darum, nicht das Band der Seelen und der gegenseitigen Liebe zu zerreißen oder erschlaffen zu lassen: die Stunde kommt, da es gilt, zu verzeihen, einen Zwist, eine Beleidigung, eine vielleicht schwere Kränkung zu vergessen. Wie viele persönliche Dramen entstehen doch, deren Bitterkeiten und Wechselfälle sich hinter dem Schleier alltäglichen Lebens abspielen! Wie viele geheime heldenmütige Opfer! Wieviel Kümmernisse, um zusammenzubleiben und sich christlich auf seinem Platz und bei seiner Pflicht zu behaupten!
Louis und Zélie Martin, Eltern der kleinen hl. Therese

Und wieviel Seelenstärke fordert dieses Alltagsleben so oft. Wenn man jeden Morgen wieder an die gleiche, oft harte und in ihrer Monotonie ermüdende Arbeit gehen muß; wenn man die beiderseitigen Fehler, die nie überwundenen Gegensätze, die kleinen Verschiedenheiten des Geschmacks, der Gewohnheiten, der Ideen, zu denen das gemeinsame Leben nicht selten Anlaß gibt, mit einem Lächeln auf den Lippen freundlich und liebenswürdig ertragen muß; wenn man sich mitten in oft unvermeidlichen kleinen Schwierigkeiten und Zwischenfällen nicht die Ruhe und die gute Laune trüben lassen darf; wenn es bei einer kalten Begegnung gilt, schweigen zu können, zur rechten Zeit die Klage zurückzuhalten, das Wort zu ändern und zu mildern, das, unbesonnen ausgestoßen, den gereizten Nerven Luft machen würde, dafür aber schuld wäre, daß in der Atmosphäre der vier Wände sich eine dunkle Wolke ausbreitete! Tausend Kleinigkeiten, tausend flüchtige Augenblicke des täglichen Lebens, von denen jeder nur wenig, fast nichts ist, deren beständige Wiederkehr sie aber schließlich gefährlich macht und mit denen, in wechselseitigem Leiden, der Friede und die Freude eines Heims zu einem großen Teil verflochten und verkettet ist.
Die Familie der kleinen hl. Therese

Suchet nicht anderswo die Quelle solchen Heldentums! In den Wechselfällen des Familienlebens wie in allen Verhältnissen des menschlichen Lebens hat das Heldentum seine wesentliche Wurzel in einem tiefen und beherrschenden Pflichtgefühl. Mit dieser Pflicht kann man nicht feilschen und handeln; sie hat den Vorrang vor allem und über alles. Jenes Pflichtgefühl ist für den Christen Bewußtsein und Erkenntnis der Oberherrschaft Gottes, seiner höchsten Autorität, seiner souveränen Güte. Dieses Gefühl lehrt, daß der klar geoffenbarte Wille Gottes keine Diskussionen zuläßt, sondern von allen fordert, sich ihm zu beugen; dies Gefühl lehrt uns vor allem andern begreifen, daß dieser göttliche Wille die Stimme einer unendlichen Liebe zu uns ist. So ist es mit einem Wort das Gefühl nicht einer abstrakten Pflicht oder eines unerbittlichen herrischen Gesetzes, das der menschlichen Freiheit des Wollens und Handeins feindlich wäre und sie erdrückte, sondern ein Gefühl, das den Forderungen einer Liebe, einer unendlich großmütigen, überirdischen und doch die vielerlei Zufälle unseres Erdenlebens regierenden Freundschaft entspricht und sich ihnen beugt.


Aus der Ansprache Pius XII: an Neuvermählte, 2. August 1941 in „Der Papst sagt“ – Lehren Pius XII., nach den Vatikanischen Archiven herausgegeben von Michael Chinigo, Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main, 1955.

Bild: Frontière, in www.katholisches.info, 31.12.2012