Mariens Fahrt übers Land


Eine Marienlegende aus dem Buch „Maria am Spinnrad“ von Otto Gillen

Unsere Liebe Frau war auf dem Wege zu ihrer Base Elisabeth. Gar zu bald überraschte sie die Nacht, es wurde auf einmal so finster, dass sie den Weg nicht mehr sehen konnte. Da hob sie betend die Augen zu Himmel auf, und siehe da, die Sterne kamen hervor, als hätte Gottvater mit einem Ruck einen Vorhang weggezogen. Aber noch war es beim blassen Sternelicht nicht hell genug, und der Jungfrau Fuß stieß an Wurzel und Stein. Da gab der himmlische Vater einer ganzen Gesellschaft herumschwirrender Käfer Laternen, damit sollten sie Maria über den Weg leuchten, solange es nacht war, und sie taten es mit Fleiß und Andacht. Das sind die Glühwürmchen, die in den Sommernächten wie närrisch durch die Luft taumeln. Damals als sie der allerseligsten Jungfrau wie eine Prozession winziger Chorknaben voranzogen, waren sie freilich größer, und ihre Laternen leuchteten besser, aber ganz haben sie ihr Licht nicht verloren, es brennt heute noch in schwachem Schimmer zum Andenken an jene Wundersame Nacht, da Unsere Liebe Frau über das Gebirge wanderte.
Am Morgen war sie sehr müde und setzte sich am Wegrand nieder. Hinter ihr flüsterte und wisperte es im Ährenfeld, als raunten sich hi Halme ein Geheimnis zu. Maria lächelte, griff spielend nach dem roten Mohn und pflückte einen Strauß davon, während über ihr die Lerchen auf einer Strahlenleiter in den klaren Morgenhimmel stiegen. Da sah sie ein Fuhrwerk des Weges kommen und stand auf. Der Mann auf dem Bock machte ein mürrisches Gesicht und wollte weiterfahren, aber das Pferd blieb von selbst stehen, und Maria trat herzu und bat den Fuhrmann, sie in Gottes Namen mitzunehmen, sie könnte nicht weitergehen, die Füß3 täten ihr weh.
Ja, aber nur ein kleines Stück, sagte der Mann, er müsse gleich zu seinem Hof abbiegen und wollte wegen ihr nicht zu spät zum Mittagessen kommen.
Maria sah ihn mit großen , kindlichen Augen an, dann sagte sie: „Ihr werdet zeitig zu Hause sein.“ Da lachte der Mann ein wenig spöttisch, machte aber eine Bewegung mit der Hand, das hieß, sie solle nur heraufkommen und sich neben ihn auf den Bock setzen. Kaum hatte sie Platz genommen, als das Pferd anzog. In flotter Fahrt ging es durch das blühende Land. Die Obstbäume, unter denen sie hinfuhren, streuten ihre Blütenblätter über die heilige Jungfrau aus, in ihrem Haar spielte der Wind, ein Sonnenstrahl lag still auf ihren Händen. De Fuhrmann musste immerzu, ob er wollte oder nicht, auf die Mohnblüten gucken, die in der Jungfrau Arm lagen, und es dauerte nicht lange, so schlief er ein, der Mohn hatte ihn mit seinem Schlafzauber umfangen.
Jetzt führte ein Engel das Pferd, und wie es lief, summte Maria ein Lied vor sich hin. Und der Tag wurde immer blauer, die Vögel kamen aus dem Gebüsch geflattert, verbeugten sich artig und sangen hinter den Wagen her. Die Rehe standen im hohen Gras und hoben den Kopf und sahen mit ihren sanften Augen zu Maria hin, und ein Kind das Fuhrwerk kommen sah, sperrte es or Verwunderung Äuglein und Mund auf. Vor dem Haus des Zacharias hielt das Pferd an, und die heilige Jungfrau stieg ab. Da kam ihr aus der Tür die Base Elisabeth entgegen, und da sie sich umarmten, ward Maria von solcher Dankbarkeit gegen Gott ergriffen, dass sie sich nicht mehr verhalten konnte und anfing, den Herrn aus übervollem Herzen zu loben und zu benedeien.
Das Pferd lief, während sein Herr noch schlief, ohne zu verschnaufen, dem Weg wieder zurück. Erst unter dem Tor seines Hofes erwachte der Fuhrmann. Er rieb sich die Sugen, es kam ihm vor, als habe er sehr lange geschlafen. An der Sonne aber sah er, dass es nocht nicht Mittag war. Als er abstieg, erhob sich von dem Patz, auf dem die heilige Jungfrau gesessen habe, ein großer, lilienweißer Schmetterling und flog in langsamen, schaukelnden Flug über das reifende Feld.

Quelle: Fatima Ruft – 3/2013 – Nr. 222