Von der Wirksamkeit des Ave Maria

Erstes Beispiel Ein Bruder hatte auf seiner Zelle ein Büchlein verloren und konnte es nicht finden, obwohl er lange unde sorgfältig gesucht hatte. Als er über diesen Verlust betrübt war und schon aufgegeben hatte, es wiederzufinden, wandte er sich dem Gebet zu und rief zur seligen Jungfrau mit dem Gruß des Engels. Als er nun auf gewohnte Weise ein Ave Maria zu beten begann und es oft wiederholte und dabei betrübt an das Büchlein dachte, da kam ihm plötzlich folgende Eingebung in den Sinn: Beim Beten vor dem Bild der seligen Jungfrau Maria saßest du dort neben dem Bett. Suche also dort vor dir unter dem Stroh des Bettes. Sofort streckte er seine Hand zur Bettlatte und wollte nachforschen, ob da etwas verborgen liege. Und siehe da, als er ein wenig das Stroh angehoben hatte, ertastete er sogleich mit seiner Hand das Büchlein und zog es heraus. Als er es sah, wunderte er sich, küsste das Büchlein vor Freude, sagte Gott Dank und löste der seligen Jungfrau sofort die versprochenen Ave Maria ein. Und er sagte sich: „Vielleicht wollte unsere Herrin ein Ave Maria erhalten und deshalb konntest du nicht sofort das Büchlein finden.“ Es ist also gut, das Ave Maria oft zu beten und die Mutter Jesu andächtig anzurufen. Zweites Beispiel Ein anderer Bruder wurde, während er auf seinem Zimmer ein Buch schrieb, vom Teufel hinterhältig mit schmutzigen Gedanken belästigt. Als er dies merkte, stand er sofort empört auf, um sein Zimmer zu verlassen und dieser Plage möglichst schnell zu entkommen. Aber bevor er hinausging, blickte er auf göttliche Eingebung hin auf das Bild der seligen Jungfrau, das er bei sich hatte, und aus Gewohnheit grüßte er es andächtig: Er machte also eine Kniebeuge und begann andächtig mit gefalteten Händen das Ave Maria zu beten. Und siehe da, sofort stand ihm die göttliche Gnade bei und unsere gütige Herrin Maria kam ihm mit ihrem gebenedeiten göttlichen Sohn zu Hilfe. Denn er begann und betete gesammelt den Gruß des Engels; und kaum hatte er den Schluß gesprochen: „Jesus Christus, Amen“, da spürte er in sich die Kraft Gottes und eine Ruhe von jeder Versuchung. Er staunte daher über die schnelle Erhörung und erkannte im gleichen Augenblick den großen Nutzen des Ave Maria gegen jeden Angriff des Feindes. Er dankte Gott und sprach zu sich: „Jetzt weiß ich wirklich, dass unsere Herrin, die heilige Maria, mächtig ist zu helfen und alle zu retten, die zu ihr rufen.“ In der folgenden Nacht aber hatte er im Schlaf diesen Traum: Es schien ihm, er ginge allein im Obstgarten spazieren, als ihm Satan entgegentrat und begann ihn zu erschrecken und in die Flucht zu schlagen. Doch von dessen Gestalt zu Tode erschrocken, begann jener zu rennen, um dessen Zugriff zu entkommen. Und weil er es nicht wagte die Umzäunung des Klosters zu verlassen, fiel er plötzlich rücklings in eine Wassergraben, der voll Schlamm war. In der Angst unterzugehen, und da er keinen in der Nähe sah, der ihm helfen und herausziehen konnte, begann er nun bei sich das Ave Maria zu beten und um Hilfe zu flehen. Sobald er aber nun gesprochen hatte: „Jesus Christus, Amen“ wurde er aus der Tiefe des Wasserbeckens gerissen und auf den trockenen Boden zurückgestellt. Da atmete er tief auf, als ob er befreit worden wäre aus der Schlinge des Todes, ins Leben zurückgerufen und wieder voll zu sich gekommen wäre. Da richtete er sich im Bett auf und begann vor Freude zu weinen. Zum Dank betete er auf den Knien gesammelt ganz viele Ave Maria und fügte noch folgende Worte hinzu: „Gegrüßt seist du Maria, unsere liebevolle Herrin, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du Pforte der Barmherzigkeit.“ Quelle: Nachfolge Mariens – Thomas von Kempen – EOS-Verlag D 86941 St. Ottilien